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„Himmel über Adelsheim“ zum Strahlen gebracht
Datum : 23.07.2024
Kurzbeschreibung: Besonderes Musikprojekt an der JVA
Neun Jugendliche der JVA boten gemeinsam mit dem Stuttgarter Kammerorchester eine energiegeladene Performance: Die Mischung aus
Rap, Klassik und selbstgeschriebenen Texten kam gut an und gab Einblick in die Gefühlswelt.
Die Akteure, allen voran neun Jugendliche der JVA sowie Mitglieder des Stuttgarter Kammerorchesters, holten
den strahlenden, weiten Himmel in die Sporthalle. © ENGLERT
Adelsheim. Man nehme eine kräftige Portion Rap, mische sie mit klassischer Musik, garniere das Ganze mit selbstentworfenen Texten, dazu als Topping eine energiegeladene Performance – und man erhält einen Cocktail namens „Himmel über Adelsheim“.
Mit diesem Mix zweier musikalischer Welten holten die Akteure, allen voran neun Jugendliche der Justizvollzugsanstalt Adelsheim (JVA) sowie des Stuttgarter Kammerorchesters, den strahlenden, weiten Himmel in die Sporthalle der JVA.
Anstaltsleiterin Katja Fritsche betonte die Wichtigkeit sozialer Projekte, ob sportlicher, künstlerischer oder musikalischer Natur, bezeichnete die kulturelle Teilhabe als unverzichtbar und gerade im Gefängnis umsetzbar, wie das leuchtende Beispiel der JVA regelmäßig zeige. „Die Gesellschaft muss in die nächste Generation investieren, auch in die hinter hohen Mauern“, appellierte sie nachdrücklich.
„Höhen und Tiefen“
„Es hat sich gelohnt, dass wir diesen Weg beschritten haben“, gab sich Katharina Gerhard, Verantwortliche des
Musikvermittlungsprogramms „SKOhr-Labor“, überzeugt. Rund 40 Mal sei man mit dem Kammerorchester von Stuttgart
hierhergekommen und habe das Projekt mit „Höhen und Tiefen“ als gleichberechtigte Partner auf Augenhöhe entwickelt.
Derart eingestimmt erwartete das Publikum gespannt, was sich alles am „Himmel über Adelsheim“ zeigen möge.
Als hätten sie sich Sternschnuppen anvertraut, kamen Wünsche und Anliegen wie „Jetzt möchte ich eine rauchen“, oder „Jetzt wünsche ich mir, dass meine Mutter den Krebs besiegt“ aus dem Off und warfen ein erstes Bild auf das Gefühlsleben der „schweren Jungs“. Passend hierzu Smetanas Streichquartett Nr. 1 e-Moll „Aus meinem Leben“, das dramatisch, verhängnisvoll, aber auch sanft mit der Gefühlswelt der Jugendlichen korrespondierte.
Emotionen vorgetragen
Unter der künstlerischen Anleitung durch Rapper Danny Fresh, der mit seinem „Rap im Knast“-Projekt bundesweit unterwegs
ist, sowie Beatboxer und Musikproduzent Pheel gelang es den Laiendarstellern, offen vor Publikum, darunter Angehörige, Ehrengäste
und Mitarbeiter, ihre Emotionen vorzutragen. Nahegehend beim ersten Rap-Solo waren Sätze wie „Mama, ihre Tränen sind der
Preis in meiner Welt.“ Einerseits unheilvoll mit ihrem schwarzen Gefieder und spitzen Schnabel, andererseits frei wie ein Vogel die
Mauern überwindend, symbolisierte „Die Krähe“, dargestellt von Regisseurin Nina Kurzeja, als Rap- und Chorpart die
Breite der Interpretationsmöglichkeiten.
Schuberts Liederzyklus „Winterreise“, bei der die Emotionen des lyrischen Ichs durch die Musik betont werden, ebnete den Insassen den Weg, ihren Gefühlen ein Ventil zu geben. Tänzerisch, lustig Smetanas 2. Satz, als sie beim Gangster-Casting in roten Turnhosen und weißen Shirts unter Leitung von Choreografin Sophie Gisbertz eine coole Performance auf die Bretter zauberten. Zauberhaft wurde es auch, als beim „Lindentanz“, rezitiert von Gefängnisseelsorger Martin Reiland, summen, zwitschern, zirpen in die Halle schwebten – und fast meinte man zwischen den ruhigen Zeilen die gerade duftenden Lindenblüten zu erschnuppern.
Kraftvoller Chorgesang
Berührend der kraftvolle Chorgesang, der innige Geborgenheit, Heimat und Nähe greifbar machte, ebenso wie die gefühlvolle
Begleitung des Kammerorchesters unter Viktoriia Vitrenkos temperamentvollem Dirigat, das im Übrigen alle Rap-Songs musikalisch
mitgestaltete. Von der heimelig anmutenden Linde ging es bei „Galera“ hinter Schloss und Riegel. Das Zusammenspiel dreier
Akteure, die restlichen als Backgroundbegleitung, Texte auf spanisch, italienisch und deutsch sowie Beatbox- und Streicherklänge
schufen ein überraschendes facettenreiches Gesamtkunstwerk. Scheinbar mühelos in Klanghöhen katapultiert, erwartete Vitrenko
und ihren Duettpartner „wie eine trübe Wolke“ eine düstere „Einsamkeit.“ Ziehende Wolken mittels
Videoinstallation in die Halle transferiert, ließen eine innere Zerbrechlichkeit und „die stummen, dunklen Stunden“
erahnen. Klassische Streicherklänge, fetzige Rhythmen, auf der Leinwand ein Blick in eine Zelle und immer wieder das Wort
„Paradies“ sowie die flehentliche Bitte: „Es tut mir leid, Mama, verzeihe mir“, gingen unter die Haut und
ließen die Funken auf’s Publikum überspringen.
Das Zusammenspiel vom volkstümlichen „Der Leiermann“, von Rap-Parts, volltönendem Chor und Solisten veranschaulichte Monotonie, Hoffnungslosigkeit und Desinteresse der Gesellschaft. Bei Smetanas 3. Satz blickten Publikum und Akteure durch ein vergittertes Fenster in die Welt davor, Erinnerungen an Kindheit, bunte Regenbogen, Freiheit kamen in den Sinn, wenngleich letztlich die harte Realität blieb, die mit Hilfe der Musik ein Ventil findet. Chor und Rap im Wechsel erzählten abwechslungsreich bei „Gute Nacht“ von Träumen, Schmerz, Liebe zur Liebsten und – immer wiederkehrend – zur Mama, die am Weinen ist, getragen von der Hoffnung: „Sie kann mir verzeih’n für all meine Taten.“
Ein traditionelles ukrainisches Wiegenlied, gesungen von Vitrenko, begleitet von Martin Reiland mit der Klarinette und dem Leiter der Gefängnismalerwerkstätten, Erkan Satilmis mit der anatolischen Baglama, einer Langhalslaute, entführte in die Ferne und zeigte die Kraft der Musik, Völker, Länder und Kulturen zu verbinden. Kraftvoll holte das Kammerorchester die Besucher zurück in die Gegenwart, um gemeinsam beim letzten Rap alle Register zu ziehen, so dass es niemanden mehr auf den Stühlen hielt. Klar, dass die sichtlich stolz und zufriedenen Jungs bei tosendem Applaus nicht ohne Zugabe von der Bühne kamen. Mit „Unter Verdacht“, „Im Dorfe“ und „Mama“ boten sie ein Grande Finale.
Derart vom Applaus des begeisterten Publikums getragen, zeigten sie sich aufrichtig dankbar, dass sie „an diesem Projekt teilnehmen durften“ und „somit ein Ventil hatten und sagen konnten, was uns auf dem Herzen liegt.“ Hierfür hatten alle ein „fettes Dankeschön“ übrig. Die ausdrucksstarken, authentischen Texte nebst der engagierten Perfomance berührten das begeisterte Publikum, und so strahlten die Augen der Häftlinge und der „Himmel über Adelsheim“ um die Wette.
Elisabeth Englert Autor
Hier geht's zum Audio-Beitrag des Deutschlandfunk